Am Samstag, den 03. Dezember 2022 wurde im Rahmen des Internationalen Tags der Menschen mit Behinderung eine Fachtagung „Ableismus und Audismus“ zum Artikel 27 Arbeit und Beschäftigung der UN-Behindertenrechtskonvention an der Universität Hamburg durchgeführt. Bei der Veranstaltung fand unter anderem ein wichtiger Erfahrungsaustausch zwischen Berufstätigen und jungen Menschen, welche studieren oder eine Ausbildung absolvieren, statt. Durch das Programm führte Dörte Maack, sie stellte gezielt die aktuelle berufliche Situation von Menschen mit Behinderung dar.
Begrüßung durch die Senatskoordinatorin Ulrike K. Kloiber
Die Senatskoordinatorin für die Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen von der Freien und Hansestadt Hamburg, Ulrike K. Kloiber, eröffnete mit einer Begrüßung die Fachtagung und fasste zusammen, dass die Teilhabe von Menschen mit Behinderung durch die Gesetzgebung grundsätzlich gegeben sei, allerdings bei Weitem nicht ausreiche. Menschen mit Behinderungen würden aufgrund ihrer körperlichen, seelischen Beeinträchtigungen und Sinnesbehinderungen auf dem Arbeitsmarkt diskriminiert, teilweise entmündigt und angefeindet werden. Diese Ungleichbehandlung wirke sich negativ auf die Chance, am Berufsleben teilhaben zu können, aus. Diese Form der negativen und bevormundenden Art gegenüber Menschen mit Behinderungen nennt man fachsprachlich „Ableismus“. Es werden Menschen mit Behinderungen bestimmte Fähigkeiten abgesprochen, ein Beispiel: Menschen mit einer Hörbehinderung würden nicht im Büro arbeiten können, weil sie nicht telefonieren können. Ableismus bedeutet verkürzt „behindertenfeindlich“. Ulrike K. Kloiber betonte zum Schluss ihrer Rede, dass die Gesellschaft sich mit Ableismus und Audismus auseinandersetzen muss, um sich die verinnerlichten Vorurteile bewusst zu machen und damit aufhört, ein Leben mit Behinderung als minderwertig zu betrachten. Erst dann, ist eine Kommunikation und ein Miteinander auf Augenhöhe möglich.
Prof. Dr. em. Marianne Pieper: Ableismus und die Inklusion von Menschen mit Behinderung am Arbeitsmarkt
Prof. Dr. Marianne Pieper vom Fachbereich Sozialwissenschaften der Universität Hamburg startete die Vortragsreihe mit dem Thema „Ableismus und die Inklusion von Menschen mit Behinderung am Arbeitsmarkt“. Im ersten Teil ihres Vortrages wird der Begriff „Ableismus“ erklärt: „englisch: „to be able“ = fähig sein, etwas können, befähigt, geeignet, begabt“. Wobei das Suffix „ismus“ auf eine gesellschaftliche Machtstruktur verweist, ähnlich wie „Sexismus“ oder „Rassismus“. Ableismus ist demnach ein gesellschaftliches Problem, weil es in den Köpfen der Menschen und in Strukturen manifestiert ist und sehr viele Bereiche und alle Menschen betrifft. Der Begriff ist erstmals in der US-amerikanischen Behindertenbewegung in den 90er Jahren aufgetaucht und im Laufe der Jahre haben sich viele internationale Wissenschaftler*innen mit dem Thema beschäftigt.
Es wird die Frage aufgeworfen, wie es zu Diskriminierung kommt. Als ein wichtiger Grund wird genannt, dass Menschen mit Behinderungen mit nichtbehinderten Menschen verglichen werden. Diese werden als „leistungsfähiger“ eingeordnet, weil bestimmte Wertmaßstäbe wie zum Beispiel „super gesund, stark, super klug, sehr gut sehen, hören, lesen, keine Assistenz brauchen“ angelegt werden. Dieser Wertmaßstab spitzt sich am Arbeitsmarkt zu und ebenso in vielen anderen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens. Prof. Dr. Marianne Pieper zitiert die Wissenschaftlerin Fiona Kumari Campbell: „Es ist eine übersteigerte Idealisierung von Leistungsfähigkeit, „perfekten“ Körpern, kognitiven Fähigkeiten, Unabhängigkeit und Autonomie“.
Prof. Dr. Marianne Pieper beschreibt die gegenwärtigen Erscheinungsformen des Ableismus, unterteilt in drei Bereiche, folgendermaßen:
Zum ersten Bereich gehört der Alltags-Ableismus, die in sozialen, negativen Interaktionen wie zum Beispiel distanzloses Verhalten (glotzen), Mitleid, jemanden auf vermeintliche Unfähigkeit zu reduzieren und sprachlich in „Ich bin doch nicht taub“, „blinder Fleck“, „am Rollstuhl gefesselt“ gipfelt. Der zweite Bereich beschreibt den internalisierten Ableismus: Menschen mit Behinderungen übernehmen die Wertmaßstäbe der Gesellschaft, was sich negativ auf deren Selbstwertgefühl auswirkt. In den dritten Bereich ordnet die Referentin den strukturellen beziehungsweise institutionellen Ableismus ein. Hierzu gehören zum Beispiel Einschränkungen durch vorgegebene bauliche Strukturen oder auch in der Kommunikation, die nur auf Hören, Sehen, Lautsprache ausgerichtet ist. Weiter sind finanzielle Barrieren zu nennen wie zum Beispiel fehlende Mittel für Sprachdolmetscher*innen. Zum institutionellen Ableismus gehört die mangelnde Repräsentation von Menschen mit Behinderung in politischen Entscheidungsgremien oder von Führungskräften mit einer Behinderung in Wirtschaft und Politik.
Im zweiten Teil stellt Prof. Dr. Marianne Pieper eine Studie vor, die die Aussichten von Menschen mit Behinderung auf dem aktuellen Arbeitsmarkt beschreibt und nennt Gründe, weshalb Unternehmen keine schwerbehinderten Arbeitsnehmende einstellen. Einige der Gründe wurden bereits zuvor genannt. Sie kommt zum Fazit, dass Ableismus Inklusion blockiert.
Simon Kollien: Audismus – eine Annäherung im Kontext der Deaf Studies
Diplom Psychologe Simon Kollien, wissenschaftlicher Mitarbeiter der Universität Hamburg vom Institut für Deutsche Gebärdensprache und Kommunikation Gehörloser, referiert zum Thema „Audismus – eine Annäherung im Kontext der Deaf Studies“. Er beschreibt Audismus als einen Gegenstand der Deaf Studies und dessen Auswirkungen auf die Arbeitswelt. Wichtigste Forschungsgegenstände der Deaf Studies sind die Bereiche Entwicklung, Leben, Sprache und Kultur tauber Menschen als Individuen und als Gruppe. Die Beziehungen zur hörenden Welt werden erläutert. Schließlich werden der Umgang und die Einordnung tauber Menschen kritisch betrachtet, dazu gehört das Aufzeigen von Diskriminierungsformen, Stigmatisierungen und von Formen der Unterdrückung. Mit den Deaf Studies sollen verschiedene „Phänomene im Zusammenhang mit dem Taubsein, der Gebärdensprache und deren Verortungen in der hörenden Gesellschaft“ mit wissenschaftlichen Methoden beschrieben werden. Audismus als Teil des Forschungsbereichs Deaf Studies untersucht negative Erfahrungswerte in Gesellschaft, Umwelt und im sozialen Umfeld. Dazu gehören Erfahrungen der Herabsetzung, Entwertung und Ausgrenzung, welche im direkten oder im indirekten Zusammenhang mit der Hörbehinderung stehen. Als Audismus (vom englischen ‘audism’ abgeleitet) bezeichnet man eine Geisteshaltung, die gegen taube und schwerhörige Personen gerichtet ist, woraus sich verschiedene Formen von systematischen Diskriminierungen derselben ableiten lassen. Audismus ist eine Form des Ableismus.
In der Arbeitswelt tritt Audismus dann auf, wenn es um Leistungseffizienz und Kommunikation im auditiven und schriftlichen Bereich geht, wie zum Beispiel in einem Bewerbungsverfahren oder auch bei Existenzgründungen. Ebenso finden sich im persönlichen Bereich im Audismus begründete Erscheinungen, wenn zum Beispiel hörende Kolleg*innen auf den Versuch hin, mit ihnen zu kommunizieren, abweisend reagieren. Informationen werden vorenthalten oder nicht verständlich genug erläutert, die Pausen verbringt man allein. In der Schlussbetrachtung des Vortrages ist es für Menschen mit Hörbehinderung und taube Menschen eine Herausforderung, für die Suche und Aufrechterhaltung eines Arbeitsplatzes eine Assistenz zu bekommen. Auch Arbeitnehmer*innen mit Hörbehinderung stoßen trotz Berufserfahrung immer wieder auf Grenzen bezüglich der Wahlmöglichkeiten, auch wenn Dolmetscher*innen eingesetzt werden.
Erfahrungsberichte von Betroffenen und Podiumsdiskussion
Nach der Mittagspause startete der zweite Teil der Fachtagung mit Erfahrungsberichten zweier Damen zu ihrem eigenen beruflichen Werdegang als Betroffene. Beiden gelang der Anschluss an den ersten Arbeitsmarkt nicht gleich. Sie mussten für ihr Ziel kämpfen. Als Grund wurde zum Beispiel genannt, dass eine Anstellung in einer Werkstatt für Menschen mit Behinderung zu Stigmatisierungen dahingehend führen kann, dass den Betroffenen bei Bewerbungen auf Stellenangebote trotz abgeschlossener Ausbildung nicht die erwartete Leistung zugetraut wird. Als positiv wurde von beiden Betroffenen gewertet, dass die Beschäftigung in der Werkstatt für Menschen mit Behinderung beziehungsweise bei der Hamburger Arbeitsassistenz mit großer Wertschätzung unter den Beschäftigten einhergeht.
In der anschließend von Dörte Maack moderierten Podiumsdiskussion stellten sich Achim Ciolek von der Hamburger Arbeitsassistenz, Heidrun Kallies von der Antidiskriminierungsberatung, Nicole Meyer, eine Doktorandin, Dr. Uwe Mietzko, Pastor der Evangelischen Stiftung Alsterdorf, und schließlich Ines Helke, Inklusionsbotschafterin, den Fragen zum Thema Arbeit und Beschäftigung von Menschen mit Behinderung. Die Hamburger Arbeitsassistenz unterstützt nicht erwerbsfähige Menschen, von denen es allein in Hamburg 5.000 bis 6.000 Menschen gibt. Als nicht erwerbsfähig gilt jemand, der das Mindestmaß an verwertbarer Leistungsfähigkeit nicht erreicht. Heidrun Kallies von der Antidiskriminierungsstelle berichtete, dass der Koalitionsvertrag den Ausbau dieser Institution für mehr Beratung von Menschen mit Behinderung vorsieht. Ines Helke betonte, dass der aktuelle und bestehende Fachkräftemangel – 2035 rechnet man mit 7 Millionen fehlenden Fachkräften – nicht hätte passieren müssen, wenn Menschen mit Behinderung bereits vor Jahren eine echte Chancengleichheit im ersten Arbeitsmarkt ermöglicht worden wäre. Zu oft wurde und wird das Augenmerk auf mögliche Hindernisse bei einer Beschäftigung von Menschen mit Behinderung gerichtet, anstatt auf deren Stärken auf Augenhöhe zu schauen und denen zu begegnen. Der aktuelle Fachkräftemangel sollte ein Anreiz für Arbeitgeber*innen sein, mehr Menschen mit Behinderung und mit ihrer Expertise zu beschäftigen. Laut Nicole Meyer kann die Inklusion auf dem ersten Arbeitsmarkt unter den aktuell gegebenen Umständen nicht gelebt werden. Als Begründung nannte sie die zu hohen, verständlicherweise auch wirtschaftlich begründbaren Leistungsanforderungen, die damit einhergehende eingeschränkte Flexibilität bezüglich der Arbeitsbelastung. Auch die mangelnde Solidarität bei den Kolleg:innen spielt oft eine Rolle. Um diesen Problemen zu begegnen, sind größere Anstrengungen hinsichtlich der Qualifizierung von Arbeitgeber*innen notwendig, um zum Beispiel Berührungsängste im Umgang mit Menschen mit Behinderung abzubauen. Es gilt bei solchen Schulungen auch herauszufinden, was Arbeitgeber*innen und Kolleg*innen über Menschen mit Behinderung denken, welche Ängste oder Sorgen sie haben. Bemängelt wurde andererseits die „Kleinteiligkeit“ im Umgang mit Menschen mit Behinderung. Es könne nicht sein, dass man an alles denken und dementsprechend schulen müsse. „Familien müssen ja auch nicht geschult werden“, war eines der Argumente.
Einig waren sich die Teilnehmer*innen dahingehend, dass der eher universitär verbreitete Begriff Ableismus viel stärker in die Öffentlichkeit und in die Gesellschaft getragen werden müsse. Des Weiteren müsse die Ausgleichsabgabe für Arbeitgeber:innen, welche zu wenig Menschen mit Behinderung beschäftigen, erhöht werden. In der Abschlussrunde ließ Ines Helke wissen: „Wer Inklusion will, findet einen Weg. Wer sie nicht will, findet Ausreden!“. Sie informiert, dass Raúl Aguayo Krauthausen, Aktivist für Inklusion und für Barrierefreiheit hierzu bald ein Taschenbuch herausbringt.
Abschluss der Inklusionsveranstaltungsreihe
Zum Abschluss der Inklusionsveranstaltungsreihe bot ein kleiner Umtrunk Gelegenheit, sich untereinander auszutauschen und sich zu vernetzen. Einig waren sich die Gäste dahingehend, dass die Vorträge und die Podiumsdiskussion einen wichtigen Einblick in Schwierigkeiten von Menschen mit Behinderung auf dem Arbeitsmarkt Fuß zu fassen, und den Gründen dafür boten. Andererseits hätte man sich eine deutlich größere Beteiligung seitens der Öffentlichkeit, von Politiker:innen und von den Inklusionsbeauftragten von Firmen und von Unternehmen gewünscht. Schließlich war es der seit Jahren bekannte Internationale Tag der Menschen mit Behinderung. Sie hätten sich ein Bild davon machen können, welche Ausgrenzung und Diskriminierung uns bis heute beschäftigt.
Danksagungen
Bedanken möchten wir uns bei Prof. Dr. Annika Herrmann, Fakultät für Geisteswissenschaften, Institut für Deutsche Gebärdensprache und Kommunikation Gehörloser und bei Prof. Dr. Barbara Hänel – Faulhaber, Fakultät für Erziehungswissenschaft, Pädagogik bei Behinderung und Benachteiligung, Universität Hamburg, welche mit uns in Kooperation die wichtige Veranstaltung durchgeführt haben.
Des Weiteren möchten wir uns bei dem Fotografen Jens Seemann für die Fotos bedanken.
Autor*innen des Beitrags:
Frauke Braeschke
Arbeitsgruppe UN-Behindertenrechtskonvention im BdS e.V.
Ines Helke
Arbeitsgruppe UN-Behindertenrechtskonvention im BdS e.V.
Jugendleiterin für außerschulische Bildung im BdS e.V.
Inklusionsbotschafterin
Jörg Winkler
Hörberatungs- und Informationszentrum im BdS e.V.